Digitale Souveränität in der Praxis: Wege von der Vision zur Umsetzung
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Digitale Souveränität ist kein Zustand, sondern ein Weg. Der Beitrag zeigt, wie Sie Abhängigkeiten sichtbar machen, Risiken priorisieren und realistische Schritte zur eigenen Gestaltungshoheit gehen.
Digitale Souveränität ist ein Begriff, der in politischen Grundsatzpapieren ebenso präsent ist wie auf Fachkonferenzen, in IT-Abteilungen oder in Strategiepapieren großer Unternehmen. Doch häufig bleibt unklar, was damit konkret gemeint ist. Geht es um Datenschutz? Um staatliche Kontrolle über digitale Infrastrukturen? Oder um Alternativen zu dominierenden US-Cloudanbietern?
Klar ist: Vollkommene digitale Souveränität ist in der heutigen Welt kaum zu erreichen. Zu tief sind die technologischen Verflechtungen, zu umfassend ist die Marktmacht einzelner internationaler Anbieter, vor allem aus den USA oder China. Diese Realität darf jedoch nicht zu Resignation führen. Im Gegenteil: Gerade auf technischer Ebene gibt es zahlreiche konkrete Handlungsfelder, in denen Organisationen, Behörden und auch Unternehmen heute schon gezielt die Weichen stellen können, für mehr Kontrolle, mehr Transparenz und weniger Abhängigkeit.
Dieser Beitrag zeigt, was digitale Souveränität tatsächlich bedeutet, warum es sich lohnt, Schritt für Schritt daran zu arbeiten und wie ein solcher Weg in der Praxis aussehen kann.
Was bedeutet digitale Souveränität überhaupt?
Im Kern beschreibt digitale Souveränität die Fähigkeit eines Staates, einer Organisation oder eines Individuums, digitale Technologien selbstbestimmt, unabhängig und verantwortungsvoll zu nutzen. Es geht also nicht um völlige Abschottung, sondern um die Freiheit zur Gestaltung und Kontrolle eigener digitaler Prozesse, ohne strukturelle Abhängigkeit von Drittstaaten oder monopolartig agierenden Unternehmen.
Digitale Souveränität betrifft dabei nicht nur Software oder Dienste in der Cloud. Sie beginnt bei der Auswahl und Kontrolle von Hardware, umfasst Rechenzentren und Netzwerke, betrifft Datenverarbeitung und Speicherorte, schließt Verschlüsselung, Identitätsmanagement und Kommunikationsplattformen ein und reicht bis zu strategischen Fragen, etwa bei der Integration neuer Technologien oder der langfristigen Ausrichtung der IT-Landschaft.
Dies gilt heute auch für KI-Systeme. Eine souveräne KI-Strategie bedeutet, Transparenz über Modelle, Trainingsdaten und Algorithmen zu behalten.
Zentral ist nicht die Frage, ob man sich vollständig unabhängig machen kann. Entscheidend ist vielmehr: Wo lässt sich bereits heute souveräner handeln? Welche Entscheidungen sind realistisch, wirtschaftlich vertretbar und technisch umsetzbar?
Dabei sollte ein risikobasierter Ansatz im Vordergrund stehen: Nicht jeder Bereich muss sofort auf komplett souveräne Lösungen umgestellt werden. Kritische Systeme, deren Ausfall hohe Auswirkungen auf Geschäftsprozesse hätte, verdienen besondere Aufmerksamkeit, während weniger kritische Bereiche weiterhin auf etablierte externe Dienste setzen können. Dieser risikobasierte Ansatz hilft, Ressourcen effizient einzusetzen und den größten Nutzen für digitale Souveränität zu erzielen.
Warum 100 % Unabhängigkeit nicht erreichbar ist – und was das bedeutet
Viele wichtige digitale Technologien stammen von internationalen Konzernen und werden nicht in Europa kontrolliert. So laufen Cloud-Dienste wie Amazon Web Services oder Microsoft Azure über weltweite Rechenzentren, Betriebssysteme auf Smartphones kommen fast ausschließlich von Apple (iOS) oder Google (Android), und selbst die Prozessoren in unseren Computern basieren meist auf US-amerikanischen oder asiatischen Architekturen.
Darüber hinaus entstehen neue, oft schwer durchschaubare Abhängigkeiten auf höherer Ebene, etwa durch Lizenzmodelle, Schnittstellen oder Integrationen, die einen Anbieterwechsel wirtschaftlich oder technisch erschweren. Selbst bei vollständig in Europa entwickelten Lösungen bleibt häufig ein gewisses Maß an technischer oder organisatorischer Abhängigkeit bestehen.
Umso wichtiger ist es, digitale Souveränität nicht als absolutes Ziel zu verstehen, sondern als dynamischen Prozess. Es geht darum, Transparenz zu schaffen, Risiken zu erkennen und dort, wo es sinnvoll und möglich ist, bewusst gegenzusteuern. Diese Haltung ermöglicht realistische, pragmatische Lösungen statt symbolischer Alleingänge.
Single Point of Failure: Das unterschätzte Risiko
Ein zentrales Thema im Kontext digitaler Souveränität ist das Risiko des sogenannten Single Point of Failure. Damit sind Komponenten oder Dienste gemeint, deren Ausfall unmittelbare, kritische Auswirkungen auf den gesamten Geschäftsbetrieb haben kann.
Praktische Beispiele aus jüngster Zeit verdeutlichen dies: Der Ausfall von Amazons AWS-Cloud-Services in mehreren Regionen führten zu Störungen bei globalen Diensten, ähnlich erging es zuletzt Microsoft und somit zahlreichen Kunden weltweit. Diese Ereignisse zeigen, dass selbst marktführende Anbieter nicht immun gegen Unterbrechungen sind.
Single Points of Failure wirken direkt auf die Verfügbarkeit: Fällt eine zentrale Komponente aus, können ganze Geschäftsprozesse lahmgelegt werden. Auch Vertraulichkeit und Integrität sind betroffen, wenn kritische Systeme kompromittiert oder Daten unkontrolliert weitergegeben werden.
In vielen Fällen sind solche Schwachstellen historisch gewachsen, z.B. eine zentrale Authentifizierungsplattform, die ausschließlich über einen externen Anbieter betrieben wird, ein Cloud-Speicher, dessen Daten ausschließlich an einem Standort liegen, oder ein proprietärer Dienst, für den es keine Ausweichlösung gibt.
Digitale Souveränität bedeutet in diesem Zusammenhang auch: Risiken erkennen und reduzieren. Durch Dezentralisierung, die Einrichtung alternativer Systeme, Priorisierung kritischer Komponenten, regelmäßige Sicherungen und den Aufbau eigener administrativer Rechte lassen sich viele dieser Punkte absichern.
Die Identifikation und Bewertung solcher Risiken ist ein zentraler Bestandteil der Business Impact Analyse. Diese systematische Betrachtung kritischer Geschäftsprozesse und ihrer digitalen Abhängigkeiten bildet die Grundlage für jede wirksame Notfallplanung. Dabei geht es nicht nur um technische Wiederanlaufpläne, sondern auch um organisatorische und strategische Fragen: Welche Ressourcen stehen im Ernstfall bereit? Welche Systeme sind priorisiert? Welche Entscheidungen muss das Management treffen?
Genau hier liegt auch eine zentrale Verantwortung der Geschäftsführung. Unabhängig vom Digitalisierungsgrad eines Unternehmens bleibt sie stets für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs verantwortlich. Die fortschreitende Digitalisierung verändert allerdings die Mittel und Wege, mit denen diese Verantwortung wahrgenommen werden muss. IT-Strategie, Risikomanagement und Geschäftsführung müssen daher eng verzahnt agieren, nicht nur im Krisenfall, sondern als Teil einer vorausschauenden Unternehmenssteuerung.
Wo Organisationen heute ansetzen können
Netzwerksicherheit unter eigener Kontrolle
Ein zentraler technischer Ansatzpunkt für mehr digitale Eigenständigkeit liegt im Bereich der Netzwerksicherheit. Firewalls, VPN-Gateways, Monitoring- und Intrusion-Detection-Systeme bilden das Rückgrat moderner IT-Infrastrukturen und sie schützen die sensibelsten Daten und kontrollieren den Datenfluss innerhalb und außerhalb eines Netzwerks. Gleichzeitig stellen sie ein potenzielles Risiko dar, wenn ihre Konfiguration, Wartung oder Datenverarbeitung durch externe Akteure oder außereuropäische Dienstleister erfolgt.
Der Weg zu mehr Souveränität beginnt mit einer Bestandsaufnahme der eingesetzten Systeme. Anschließend kann geprüft werden, in welchen Bereichen Alternativen unter eigener Kontrolle möglich sind. Die Migration erfolgt in der Regel schrittweise, beginnend mit weniger kritischen Netzsegmenten. Besonders hilfreich ist dabei der Einsatz von Lösungen, die Transparenz über Regeln, Protokolle und Zugriffsmechanismen bieten. Dies erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern minimiert auch das Risiko eines unbemerkten Kontrollverlusts.
Souveränes Datenhosting und Cloud-Einsatz mit Augenmaß
Kaum ein Bereich ist derzeit so stark durch Abhängigkeiten geprägt wie das Cloud-Hosting. Große Anbieter dominieren den Markt, häufig aufgrund technischer Exzellenz, aber ebenso durch aggressive Marktstrategien. In vielen Organisationen sind zentrale Prozesse und Datenverarbeitung fest mit diesen Plattformen verzahnt. Die Vorteile, etwa bei Skalierbarkeit und Verfügbarkeit, sind real. Doch sie gehen mit Kontrollverlusten einher.
Ein souveräner Umgang mit der Cloud beginnt nicht zwingend mit einem kompletten Anbieterwechsel, sondern mit einer bewussten Differenzierung: Welche Daten und Anwendungen sind geschäftskritisch? Welche regulatorischen Anforderungen gelten für deren Verarbeitung? Wo ist die Nutzung externer Dienste unproblematisch und wo müssen Alternativen geschaffen werden?
Der Aufbau redundanter Strukturen, etwa durch die Kombination von Cloud- und On-Premises-Lösungen, erhöht die Resilienz. Auch hybride Modelle, bei denen nur ausgewählte Dienste in die Cloud ausgelagert werden, bieten praktikable Wege. Entscheidend ist, dass die Organisation zu jedem Zeitpunkt nachvollziehen kann, wo ihre Daten liegen und was im Fall von Ausfällen, Vertragskündigungen oder geopolitischen Verwerfungen geschieht.
Kommunikationssysteme datenschutzkonform betreiben
Die digitale Kommunikation ist ein besonders sensibler Bereich. Hier laufen nicht nur Inhalte, sondern auch Metadaten, Nutzerverhalten und Zugriffsrechte zusammen - oft über Plattformen, die außerhalb der Kontrolle der Organisation betrieben werden.
Zunehmend rücken deshalb eigenbetriebene oder europäisch gehostete Kommunikationsdienste in den Fokus. E-Mail-Server, Messenger, Videokonferenzsysteme und Kalenderlösungen lassen sich auf eigene Infrastruktur migrieren oder in zertifizierten europäischen Rechenzentren betreiben. Wichtig ist, dass die Organisation die Entscheidungshoheit über Speicherorte, Verschlüsselungsmechanismen und Zugriffskontrollen behält.
Die Umstellung muss nicht abrupt erfolgen. Vielmehr kann ein gestuftes Vorgehen gewählt werden: Für besonders vertrauliche Kommunikation können eigene, abgesicherte Kanäle etabliert werden, während der Rest der Organisation vorerst weiter bestehende Systeme nutzt. So entsteht Schritt für Schritt ein flexibles, kontrollierbares Kommunikationsnetz ohne operative Brüche.
Open Source als strategisches Element
Quelloffene Software ist ein entscheidender Bestandteil jeder souveränen IT-Strategie. Sie bietet nicht nur technische Transparenz, sondern auch die Möglichkeit, Sicherheitslücken unabhängig zu bewerten, Funktionen anzupassen und langfristig unabhängig von den Interessen einzelner Anbieter zu bleiben.
Der Einstieg gelingt oft über Anwendungen mit geringem Risiko, wie Dateiablagen, Projektmanagement-Tools oder Webdienste. Für viele Organisationen lohnt es sich, Open Source nicht nur punktuell, sondern strategisch zu betrachten. Durch den Aufbau interner Kompetenz und die Zusammenarbeit mit spezialisierten Dienstleistern entsteht ein Ökosystem, das nachhaltig, kosteneffizient und anpassungsfähig ist.
Dabei geht es nicht darum, alles selbst zu entwickeln oder zu betreiben. Vielmehr ist die Kombination aus Open Source, professionellem Support und klaren Betriebsmodellen oft der Königsweg, technisch stabil und strategisch unabhängig.
Fazit: Digitale Souveränität entsteht durch konkrete Entscheidungen
Niemand kann sich heute vollständig unabhängig von globalen Technologien machen. Doch darum geht es auch nicht. Digitale Souveränität ist kein Zustand, sondern ein Prozess, eine Haltung, die sich in strategischen Entscheidungen, technischen Standards und operativen Abläufen niederschlägt.
Organisationen, die sich auf diesen Weg begeben, stärken nicht nur ihre Unabhängigkeit, sondern auch ihre Resilienz. Sie gewinnen Spielräume zurück – technologisch, wirtschaftlich und strategisch. Und sie setzen ein Zeichen: Für Datenschutz, für rechtliche Klarheit, für Gestaltungskraft in einer digitalen Welt.
Digitale Souveränität beginnt nicht mit Symbolpolitik. Sie beginnt mit fundierten, realisierbaren Entscheidungen. Und sie gehört heute zu den Kernaufgaben moderner Unternehmensführung.
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